Die weiße Schwester - Tinnuriels Geschichte

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Tinnuriel
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Die weiße Schwester - Tinnuriels Geschichte

Beitrag von Tinnuriel »

Tinnuriels Geschichte

Kapitel 1

Die weiße Schwester


Es war an einem Frühjahrsabend zur Zeit der Dämmerung als das langersehnte Kind von Faeldir und Muissel La’thonai zur Welt kam, ein zartes Mädchen. Nachdem Muissel schon mehrere Fehlgeburten hinter sich hatte und die Ärzte sie eingehend vor den Folgen einer weiteren Schwangerschaft warnten, war klar, daß dieses Mädchen das einzige Kind der beiden sein würde. Liebevoll betrachteten sie das Baby und Faeldir beschloß: „Sie wurde zur Zeit der Abenddämmerung geboren und so soll sie auch heißen: Tinnuriel, Tochter der Abenddämmerung. Und da sie so schön ist, wird ihr zweiter Vorname Faenreth sein, die Strahlende.“

Das Haus La’thonai war ein altes, jedoch völlig verarmtes Adelsgeschlecht des Landes Hilos und Tinnuriel wuchs abgelegen auf dem Lande auf, außerhalb des kleinen Städtchens Sirrah und direkt am Düsterwald.
Dort verbrachte sie eine glückliche und ausgelassene Kindheit. Auf den Erwachsenen jedoch lastete stets der Schatten des Krieges mit den Menschen. Obwohl niemals ein Mensch seinen Fuß auf das Gebiet der Elben westlich des Nodus-Sees setzte, drangen Gerüchte von schrecklichen Gräueltaten zu den zurückgezogen lebenden Elben und sie priesen den Düsterwald dafür, daß er eine natürliche Grenze zur Welt der Menschen darstellte. Tinnuriel wuchs mit Geschichten über die Grausamkeit der Menschen auf, die nicht einmal davor zurückschreckten, die Weisen unter den Bäumen zu fällen und selbst Jungtiere ohne Not töteten. Als sie nahezu erwachsen war, half sie ihrem Vater bei der Verwaltung des Gutes,war allerdings seiner Aussage nach „einfach nicht zu gebrauchen“, wie er mit einem tiefen Seufzen ihrer Mutter anvertraute.
„Das Mädchen sollte sich mehr um die Bücher kümmern, statt immer nur im Wald herumzustreunen“, brummte er bereits zu Tinnuriels Kinderzeit. Doch Tinnuriel wickelte ihren Vater stets mit einem strahlenden Lächeln um den Finger, wenn sie wieder einmal zerzaust, verdreckt und viel zu spät aus dem Wald nach Hause kam - oftmals mit irgendeinem verletzten Tier oder einem Pflanzenschößling in der Tasche. Kurz: sie war ungebärdig, ein Wildfang und maßlos verzogen. Ein kleines Persönchen, das Autoritäten und Befehlen mit einem Lachen begegnete und dann doch ihre eigenen Wege ging. Besorgt sprach ihr Vater mit dem Druiden und dieser führte ein langes Gespräch mit Tinnuriel. An einem ihrer Lieblingsplätze im Düsterwald in der Nähe einer kleinen Quelle unterhielt sich der alte Druide Aewon mit Tinnuriel und sprach über die Tiere und Pflanzen des Waldes. Bald schon schweiften Tinnuriels Gedanken ab und obwohl sie über ein großes Interesse am Düsterwald verfügte, lauschte sie mehr dem Plätschern der Quelle als der Stimme des Druiden und beobachtete den Tanz der Schmetterlinge statt des weisen Gesichts vor ihr.
Zwei Wochen später rief ihr Vater sie zu sich. „Tinnuriel“, begann er streng, „Aewon weigert sich, dich zur Druidin auszubilden! Er sagt, du hättest nicht die nötige Disziplin, vom Respekt Älteren gegenüber einmal ganz zu schweigen. Anscheinend habe ich bei Deiner Erziehung einiges verkehrt gemacht, aber das läßt sich korrigieren!“ Tinnuriel, die eine solche Strenge ihres Vaters nicht kannte, lauschte erschrocken. Tatsächlich wurden ihre schlimmsten Befürchtungen wahr, denn er fuhr fort: „Deine Tante Noruinivien, die am Hofe zu Tejat lebt und eine der Hofdamen der Königin ist, wird Dich unterrichten. Du wirst morgen bei Sonnenaufgang aufbrechen, das ist mein letztes Wort.“
Kein Bitten und Betteln konnten ihn erweichen und er ging sogar so weit, in dieser Nacht Wachen vor Tinnuriels Gemach und unter ihrem Fenster zu postieren, denn er kannte seine Tochter. Tinnuriel weinte lange in dieser Nacht, doch am Morgen stieg sie erhobenen Hauptes nach einem kurzen Abschied von Mutter und Vater in die Kutsche, die sie in die Hauptstadt bringen sollte. Sie sah nicht mehr die bitteren Tränen, die ihre Mutter weinte und wie ihr Vater sie traurig in die Arme nahm.
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Re: Die weiße Schwester - Tinnuriels Geschichte

Beitrag von Tinnuriel »

Tejat, die Hauptstadt des Landes, erschreckte Tinnuriel zutiefst. Sie, die nur die Einsamkeit der Wälder gewohnt und außerhalb einer Ortschaft aufgewachsen war, war völlig verstört durch die schieren Elbenmengen. Das strenge Hofprotokoll jedoch machte ihr nichts aus, denn - wie sie erst jetzt erkannte - war sie von ihrer Mutter streng konservativ nach alten elbischen Werten erzogen worden. So mußte ihr niemand erklären, wie sie sich in Gegenwart der Königin zu verhalten habe oder daß man einen Sitzungssaal nicht ohne Aufforderung betreten dürfe.
Ihre Tante Noruinivien, die Schwester ihrer Mutter, war äußerst liebevoll zu dem verstörten Mädchen und gab ihr Zeit zum eingewöhnen; als Tinnuriel jedoch innerhalb weniger Tage zum dritten Mal mit verdreckten und zerrissenen Röcken zum Essen erschien, riß auch ihr der Geduldsfaden. Alle Vorhaltungen nützten jedoch nichts, denn obwohl Tinnuriels höfisches Verhalten makellos war, fand sie doch immer wieder eine Gelegenheit, ihren Aufgaben zu entwischen. Auf einem dieser Ausflüge kletterte sie in den Bäumen des Schloßgartens herum, als sich zwei Gestalten genau dem Baum näherten, in dem sie saß. Unter dem Baum blieben die beiden Männer stehen und führten ein ernstes Gespräch. Erschrocken erkannte Tinnuriel, daß es sich um den Kronprinzen und einen seiner hochgestellten Gäste handelte, einen gewissen Gadón Donar, dem sie am vorigen Abend auf einem Hofball vorgestellt worden war. Angestrengt bemühte sie sich, sich mucksmäuschenstill zu verhalten und wäre wohl auch unentdeckt geblieben, wenn Gadón nicht den Blick gehoben hätte, um den Flug einer Taube zu verfolgen. Dabei streifte sein Blick Tinnuriels Schuhspitze und im Handumdrehen lag sie vor ihm auf dem Rasen. Glücklicherweise ließ der Prinz davon ab, seine Wache zu rufen und musterte Tinnuriel stattdessen mit einem amüsierten Funkeln im Blick. „Ich habe ja schon von Eurer Naturverbundenheit gehört“, meinte er schmunzelnd, „aber daß Ihr soweit geht, die Bäume des Schloßgartens höchstpersönlich auf Schädlinge zu untersuchen…“ Er lachte leise. „Denn Ihr wolltet sicherlich nicht ein höchst privates Gespräch belauschen, meine Liebe - oder?“
Tinnuriel, rot bis an die Haarwurzeln, konnte nur schweigend den Kopf schütteln. Prinz Rínion mochte zwar amüsiert scheinen, Gadón jedoch musterte sie streng und abweisend. Als der Prinz ihr erlaubte, sich zu entfernen, eilte sie hastig in ihre Gemächer und war zur Verwunderung ihrer Tante in den folgenden Tagen nicht nur überaus schweigsam, sondern auch außergewöhnlich folgsam.
Mehrere Tage vergingen und eines Morgens überbrachte ein Junge eine Nachricht an Tinnuriel. Noruinivien zog erstaunt die Augenbrauen hoch und vermutete schon die Botschaft eines Verehrers, revidierte diesen Verdacht jedoch sofort, als sie Tinnuriels blasses Gesicht sah. „Ich soll…“, stotterte diese, „ich soll zum Obersten Bewahrer kommen…“ Sie schluckte und auch ihre Tante wurde bleich. „Kind, was hast du angestellt?“ Besorgt blickte sie dem Mädchen nach, als es sich sogleich auf den Weg machte. Schließlich stand Tinnuriel vor Aeglosson, dem Obersten Bewahrer des Landes und Berater des Königs. Neben ihm stand Gadón und schaute ebenso finster wie am Tag ihrer Begegnung in den Gärten. Ihre Knie wurden weich und sie wagte nicht aufzuschauen, als Aeglosson das Wort an sie richtete. „Mir ist zu Ohren gekommen,“ begann er trocken und mit einem Seitenblick auf Gadón, „daß Ihr die Natur liebt, insbesondere die Bäume. Stimmt das?“ Tinnuriel verschlug es die Stimme, so daß Gadón sich schließlich zu Wort meldete. „Sprecht ruhig, die Liebe eines Elben zur Natur ist stets lobenswert“, wobei er ihr zuzwinkerte. Zumindest schien Aeglosson also nichts von der Peinlichkeit zu wissen, daß sie Gadón vor die Füße geplumpst war wie ein reifer Apfel. Tinnuriel holte Luft und richtete sich gerade auf. „Ja,“ antwortete sie stolz, „meine Heimat ist der Düsterwald.“ Aeglosson nickte. „Ja, das habe ich gehört. Ebenso habe ich gehört, daß Ihr Eure Pflichten im Palast vernachlässigt, um Euch in die Gärten davonzustehlen.“ Er sah Tinnuriel streng an. „Euch ist bewußt, daß Eure oberste Pflicht darin besteht, den Befehlen des Königshauses zu folgen?“ Tinnuriel schluckte, begehrte aber auf: „Meine oberste Pflicht besteht darin, das Land der Elben und die Natur zu schützen, so lehrte es mich mein Vater.“ Aeglosson warf einen Seitenblick auf Gadón, der schmunzelte, wodurch er plötzlich viel weniger furchteinflößend wirkte. „Seht Ihr,“ sagte Gadón, „ich habe die Wette gewonnen!“ Verblüfft schaute Tinnuriel zwischen ihm und Aeglosson hin und her, was ging hier bloß vor?
Aeglosson wandte sich ihr wieder zu. „Mein Freund Gadón Donar hier meinte, daß Ihr mehr seid als nur ein verschrecktes kleines Mädchen, das gerade dazu taugt, die Schleppe der Königin zu richten und bei Tisch den Wein zu reichen. Mir scheint, er hat recht.“ Nachdenklich musterte Aeglosson das Mädchen und schwieg lange Zeit. Schließlich ergriff er wieder das Wort. „Nun gut, wir werden es versuchen. Ihr meldet Euch sofort bei Cúion, dem Hauptmann der Wache. Er wird Euch ein neues Quartier zuweisen. Eure Ausbildung beginnt in einer Stunde, Ihr dürft Euch jetzt entfernen.“ Sprachlos starrte Tinnuriel ihn an und wollte schon zu einer Erwiderung ansetzen, als Gadón ihr aufmunternd zunickte. Sie schluckte ihre Antwort hinunter, verbeugte sich knapp und ging. Erst im Burghof gestattete sie sich, tief durchzuatmen um so die aufkommende Übelkeit zu verdrängen. Wer, bei den Sternen, war dieser Gadón Donar eigentlich und was bildete er sich ein? Und was hatte er ihr eingebrockt, sollte sie etwa zu einem Mitglied der Palastwache ausgebildet werden und ihr Leben umgeben von Mauern aus Stein beschließen? „Niemals!“, schwor Tinnuriel bei sich und machte sich wütend auf den Weg zu Cúion, den sie nur vom Sehen kannte.
Cúion, ein für einen Elben ungewöhnlich kleiner Mann, der jedoch den Ruf eines überaus geschickten Bogenschützen hatte, musterte sie ungehalten und umkreiste sie einmal langsam, während er in sich hineinfluchte. Mit Tinnuriel, die sich ebenso überrumpelt fühlte wie er, ging schließlich das Temperament durch: „Hört, Cúion, mir paßt diese Sache ebenso wenig wie Euch. Wenn es nach mir ginge, würde ich sofort abreisen und diese ganze verfluchte Stadt und das verdammte Schloß nie wieder betreten…“ Sie kam gar nicht dazu, auszusprechen, da hatte Cúion ihr auch schon seinen Dolch einmal über den Handrücken gezogen. „Wagt es nie wieder, die Hauptstadt und den Herrschersitz zu lästern, Ihr verwöhntes Gör! Ihr bedeutet nichts als Ärger und seit Eurer Ankunft vernachlässigt Ihr Eure Pflichten. Glaubt nicht, mir wäre nichts davon zu Ohren gekommen. Ihr werdet die Befehle befolgen, die man Euch gibt, dafür werde ich schon sorgen und…“ Eine scharfe Stimme schaltete sich plötzlich ein. „Ihr vergeßt, Cúion, daß das Mädchen nicht Eurem Befehl untersteht. Ihr habt lediglich die Aufgabe, ihr eine neue Unterkunft zuzuweisen und sie in der Kunst des Bogenschießens zu unterrichten. Die eigentliche Unterweisung werden andere übernehmen.“ Derart unterbrochen warf Cúion einen bösen Seitenblick auf Gadón, bevor er sich wieder anderen Aufgaben zuwandte.
Tinnuriel musterte Gadón mit zusammengekniffenen Augen, sagte jedoch nichts. „Nun,“ meinte Gadón schließlich in leichtemTonfall, „da die Katze Eure Zunge gefressen zu haben scheint, werde ich das Reden übernehmen. Ihr habt Mut und liebt die Natur, außerdem seid Ihr äußerst geschickt im Klettern und versteht mit dem Bogen umzugehen. Ich hörte, daß die Druiden sich geweigert haben, Euch auszubilden, da Ihr über einen eigenen Kopf verfügt, den Ihr durchaus einzusetzen wißt. Durchzusetzen übrigens auch“, fügte er mit einem schelmischen Grinsen hinzu. Tinnuriel klappte der Mund auf.
„Ihr könnt den Mund wieder zumachen, es sei denn, Ihr wollt Fliegen fangen“ fuhr Gadón fort. „Aeglosson hat beschlossen Euch zum Bewahrer auszubilden. Ihr wißt, daß die Bewahrer die Aufgabe haben, das Land und die Bewohner zu schützen. Dazu müssen sie sich mit der Natur und den Pflanzen auskennen und über dieses Wissen verfügt Ihr.“ Er sah Tinnuriels überraschten Blick. „Prinz Rínion hat Erkundigungen über Euch eingezogen, Ihr habt doch nicht wirklich geglaubt, er würde den ’Zwischenfall’ “ - bei diesem Wort lächelte er süffisant - „ohne Weiteres auf sich beruhen lassen, oder? Nun, jedenfalls werdet Ihr eine Ausbildung zum Bewahrer erhalten und der gute Cúion wird aus Euch eine Meisterin des Bogens machen. Allerdings solltet Ihr dazu vielleicht ein wenig charmanter mit ihm umgehen.“ Gadóns Augen funkelten belustigt, während Tinnuriel ihn am liebsten erdolcht hätte.
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Re: Die weiße Schwester - Tinnuriels Geschichte

Beitrag von Tinnuriel »

Die Zeit verging und Tinnuriel wurde tatsächlich von den besten Leuten des Hofes zur Bewahrerin ausgebildet. Was das Verhältnis zu Cúion anging, so besserte sich das indes nicht, obwohl er unzweifelhaft ein Meister im Umgang mit dem Bogen war und sie bei ihm vieles lernte. Wirklich am Herzen lag ihr jedoch der Umgang mit den Pflanzen und - um der Wahrheit die Ehre zu geben - schlich sie sich noch immer hin und wieder fort, um außerhalb der Stadt Ruhe zu finden und des Nachts die Sterne zu betrachten. Das Befolgen von Befehlen lag ihr nicht, ganz wie Gadón gesagt hatte: sie hatte ihren eigenen Kopf. Überhaupt dachte sie in diesen Nächten manches Mal an Gadón, der ihr zunehmend mysteriöser erschien. Seit jenem Tag, an dem sie ihre Ausbildung aufnahm, hatte sie ihn nicht wiedergesehen.
Eines Nachts, Tinnuriel hatte sich unbemerkt aus der Stadt geschlichen, lag sie auf einer Wiese im Mondlicht und betrachtete die Sterne. Sie fragte sich, wann sie nach Hause in den Düsterwald zurückkehren könne, während sie gleichzeitig eine dunkle Ahnung beschlich, daß diese Rückkehr wohl noch in weiter Ferne liegen mochte. Als sie ein leises Geräusch hört, fuhr sie auf. Da war es wieder! Sie war unbewaffnet, eine Dummheit sicherlich. Andererseits lag das Land in tiefem Frieden und sie hatte hier, in unmittelbarer Nähe der Stadt, noch nie eine Waffe gebraucht. Mit klopfendem Herzen sah sie sich um, nur der Mond und die Sterne leuchteten friedlich, ein leiser Wind wehte. Das Geräusch klang sonderbar… fast wie das Maunzen einer Katze? Tinnuriel schlich sich mit geübten Bewegungen näher an das Geräusch heran. Da, aus der Senke dort vorne schien es zu kommen. Sie verfluchte sich dafür, waffenlos zu sein, als sie einen Schimmer erkannte. Etwas Weißes lag dort, zusammengerollt und gab kummervolle Laute von sich. Etwas Weißes? Tinnuriel stutze. Es hatte weder geschneit noch lag Nebel über dem Land. Was also war das? Leise und vorsichtig näherte sie sich und erkannte Rot auf dem Weiß. Ein Tier! Ein weißes Tier, das verletzt war und blutete. Tinnuriels Herz ging über, schon als Kind hatte sie jedes verletzte Tier, das sie fand, mit nach Hause geschleppt. Auch wenn seine Chancen noch so schlecht standen und bei diesem hier schienen die Chancen extrem schlecht zu stehen. Sie machte beruhigende Laute und kniete direkt vor dem - ja, vor was eigentlich? Ein solches Tier hatte sie noch nie gesehen. Es war weiß. Und zierlich. Und es hatte - Flügel? Tinnuriel staunte. Allerdings brauchte das Tier unbedingt einen Heiler und Pflege und Wärme. Langsam streckte Tinnuriel die Hand aus und berührte vorsichtig das blutverklebte Fell des Tieres. „Oh, du armes, was ist dir nur zugestossen? Komm, ich helfe dir, ganz ruhig…“ Behutsam nahm sie das Tier auf, das jammervolle Laute ausstieß, sich aber nicht wehrte. So schnell sie konnte, eilte sie mit ihm in die Stadt zurück und klopfte die Heilerin aus dem Bett.
Dûrbes schätzte es gar nicht, wegen eines Tieres in ihrer Nachtruhe gestört zu werden, aber Tinnuriel blieb hartnäckig und so machte sich die Heilerin schließlich seufzend an die Behandlung der Wunden. „Aber wehe, ich werde gebissen! Wo habt Ihr dieses… dieses…“ fragend schaute sie Tinnuriel an, „…’Etwas’ überhaupt her? So etwas habe ich noch nie gesehen, seid Ihr sicher, daß es harmlos ist? Vielleicht sollten wir… ich habe da ein Mittel, davon schläft es ganz sanft ein und…“ Noch bevor Dûrbes ausreden konnte, hatte Tinnuriel das Tier an sich gerissen, das jammervoll maunzte. „Niemals!“ stieß sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor. „Wagt es ja nicht!“
Tinnuriel nahm das Tier mit in ihr Gemach und bereitete ihm ein Nest in ihrer Kleidertruhe, sonderlich viel Wert auf ihre Hofkleidung hatte sie ja nie gelegt. Die ganze Nacht beobachtete sie das seltsame Tier, bis ihr schließlich vor Erschöpfung die Augen zufielen. Am nächsten Morgen weckte sie ein Klopfen an der Tür und der Bogenmeister Cúion stand vor ihr. Ausgerechnet! Der mißmutige kleine Elb warf einen Blick über Tinnuriels Schulter und seine Augen weiteten sich, als er gerade zu einer Schimpftirade wegen ihres Verschlafens ansetzen wollte. „Bei derGöttin!“ stieß er hervor. „Hier steckt das Biest also! Ich wußte doch, daß ich es getroffen habe, aber es war ja schnell wie der Blitz verschwunden. Na wartet,“ er warf Tinnuriel einen schadenfrohen Blick zu, „ich werde Ihre Hoheit gleich davon in Kenntnis setzen.“ Laut lachend und offenbar glücklich stapfte er davon, während Tinnuriel nachdenklich das kleine Wesen musterte, dem es jetzt viel besser zu gehen schien. Sein Fell war seidig und die Flügel leuchteten zartrosa. Ebenso wie die ungewöhnlichen Ohren, die lang und spitz waren, fast wie Elbenohren. Es hatte vier kleine Pfötchen, rote Augen und einen sehr langen, seidigen Schwanz. „Was bist du für ein Wesen?“ murmelte Tinnuriel. „Egal, ich werde dich beschützen!“ versprach sie ihm und machte sich auf den Weg. Was hatte Cúion bloß gemeint?
Sie sollte es früh genug erfahren, denn sie hatte noch nicht einmal den Burghof erreicht, als sie den Befehl bekam, sofort bei der Königin zu erscheinen.
Ihre Majestät hatte ihre Hofdamen um sich herum versammelt, unter ihnen auch Tante Noruinivien, und musterte sie kalt. „Ich hatte von einem Abgeordneten der Menschen“, sie spuckte das Wort voller Verachtung aus, „ein wildes Tier erhalten. Angeblich ein Geschenk an die Hohe Königin der Elben, in Wirklichkeit jedoch eine Verhöhnung. Es ist wild und ungezähmt und die Anspielung auf die Ohren ist nicht zu übersehen. Ich befahl Cúion, es zu töten und er hat versagt. Das Biest konnte entkommen. Wie ich höre, habt Ihr es gefunden und in den Palast gebracht.“ Sie schaute Tinnuriel herablassend an. „Händigt es Cúion aus und die Sache soll vergessen sein. Ihr dürft gehen.“
Noruinivien, die ihre Nichte kannte, schaute sie flehentlich an, aber Tinnuriel begehrte auf - wie so oft im falschen Moment und am falschen Ort. Sie weigerte sich rundheraus, das Tier herauszugeben! Die Königin musterte sie verblüfft, dann fragte sie eisig: „Ihr mißachtet einen direkten Befehl Eurer Königin?“ Tinnuriel schluckte schwer, ein dicker Klumpen schien in ihrem Hals zu sitzen. Sie mußte sich mehrmals räuspern, bevor sie begann, sich zu rechtfertigen. Die Königin schnitt ihr das Wort ab: „Genug! Ich habe einen neuen Befehl für Euch“, sie lächelte boshaft. „Ihr werdet das Biest zu den Menschen zurückbringen. Sie kamen aus … ’Harf’, sagten sie wohl. Irgendeine unbedeutende Stadt der Menschen. Und sie nannten es… ’Schneefrettchen’? Egal.“ Sie zuckte die Schultern. „Bringt das Biest dorthin zurück, danach könnt Ihr Eurer Wege gehen. Ihr seid entlassen.“ Sie wandte sich ab, während Noruinivien im Hintergrund verzweifelt die Hände rang.

Tinnuriel verließ wie betäubt die Gemächer der Königin. An wen konnte sie sich wenden,was sollte sie tun? Sie mußte den Hof verlassen, aber ins Reich der Menschen reisen? Unmöglich! Sie dachte an den lange zurückliegenden Krieg und die Schauergeschichten über die Menschen: sie hatten gemordet und gebrandschatzt, hatten elbische Schätze zerstört oder geraubt. Sie hatten ganze Wälder getötet und harmlose Tiere abgeschlachtet. Noch nie hatte sie einen Menschen selbst gesehen oder ihre Sprache gehört. Und doch wußte sie, daß ihr keine andere Wahl blieb, wollte sie nicht endgültig den furchtbaren Zorn der Königin auf sich ziehen. Langsam ging sie in ihre Kammer, wo sie wie im Traum ihre Habseligkeiten packte. Als letztes drückte sie das Tierchen an ihre Brust. „Ich werde gut für dich sorgen“, flüsterte sie, während ihr die Tränen die Wangen hinunterrannen.„Wir bleiben zusammen, keine Sorge, meine kleine weiße Schwester. Ja, das soll dein Name sein: Fainith“.
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Seelenbruder

Beitrag von Tinnuriel »

Kapitel 2

Seelenbruder

An der Tür drehte Tinnuriel sich noch einmal um und musterte die kleine Kammer, die so lange ihr Zuhause gewesen war. Seufzend schloß sie die Tür hinter sich und machte sich auf den Weg in den Burghof, tief in Gedanken versunken und voller Trauer. Der Bursche, der sie sofort und auf der Stelle zu Aeglosson bringen sollte, mußte dreimal rufen, bevor sie ihn hörte und ungläubig anstarrte.

Aeglosson stand hinter seinem Schreibtisch und schäumte vor Wut. „Ein Frettchen! Ein dummes, albernes Frettchen! Und dafür…“ Als Tinnuriel durch die Tür trat, blickte er auf und sah sie derart böse an, daß sie bleich wurde. „Was habt Ihr Euch dabei gedacht?!“ fuhr er sie an, „Der Königin zu widersprechen und alles wegzuwerfen, was ich über Jahre aufgebaut habe. Jahre habe ich in Eure Ausbildung investiert, Jahre! Und Ihr werft es weg wegen eines…“ Er schoß einen giftigen Blick auf das zitternde Bündel in Tinnuriels Arm, das sich enger an sie drückte, als würde es jedes Wort verstehen. „Ich war beim König“, fuhr er fort, „und bei Prinz Rínion auch, aber keiner von beiden ist geneigt, den Befehl der Königin aufzuheben. Und das mit Recht; Ihr habt Glück, daß Euch Eure Widerworte nicht das Leben gekostet haben. Jetzt allerdings würde es auch nichts mehr nützen, diesem Ding da die Kehle durchzuschneiden. Die Königin gab Euch einen Befehl und Ihr werdet ihn ausführen, wenigstens einmal in Eurem Leben werdet Ihr widerspruchslos das tun, was man Euch aufgetragen hat!“ Aeglosson liess sich schwer atmend in seinen Sessel fallen und schüttelte den Kopf. „Große Pläne hatte ich mit Euch“, er lachte bitter. „Alles zunichte gemacht von einem Fellbündel, das besser im Kochtopf aufgehoben wäre.“ Das Frettchen schob die Schnauze aus Tinnuriels Umhang und zischte Aeglosson an, der es daraufhin verblüfft anstarrte. „Mir scheint, das Biest hat das gleiche aufmüpfige Wesen wie Ihr. Wie schön, daß Ihr so gut zusammenpaßt!“ schloß er sarkastisch.
„Aber genug davon,“ fuhr er fort, „wenn Ihr auch meine Pläne durchkreuzt habt, so habe ich andere Pläne mit Euch. Eure Ausbildung ist noch lange nicht abgeschlossen, aber Ihr werdet noch etwas lernen, das wichtig ist für Eure Reise. Kurz: Ihr werdet einen Begleiter bekommen. Ihr wißt selbstverständlich, was ein Geisttier ist. Es wird Zeit, daß Ihr das Eure kennenlernt.“

Tinnuriel starrte ihn mit offenem Mund an. Ein Geisttier! Sie wußte, daß jeder Elb ein Geisttier hatte, einen unsichtbaren Begleiter, der seinem Wesen entsprach. Nicht alle Elben waren in der Lage, ihr Geisttier tatsächlich zu sehen, geschweige denn, zu rufen. Dazu bedurfte es einer sorgfältigen Ausbildung durch einen Druiden oder Bewahrer. Unter normalen Umständen wäre sie vor Freude außer sich gewesen, doch die Umstände waren alles andere als normal und ihr fehlte schlicht die Zeit für eine solch aufwändige Unterweisung. Der Befehl der Königin war eindeutig gewesen - oder?
Aeglosson nickte grimmig. „Ihr müßt aufbrechen, daran führt kein Weg vorbei. Doch die Königin hat nicht gesagt, wann Ihr abzureisen habt. Wir sollten ihre Geduld jedoch keinesfalls auf die Probe stellen, Ihr werdet sozusagen eine Kurz-Lektion bekommen. Das gefällt mir zwar gar nicht, aber eine andere Möglichkeit gibt es momentan nicht. Ich habe mit Iorthon gesprochen, dem Obersten Druiden. Er wird Euch lehren, Euer Geisttier zu rufen. Geht sofort zu ihm!“

Derart entlassen machte sich Tinnuriel auf den Weg, während ihr unzählige Gedanken durch den Kopf gingen. Ein Geisttier! Welches mochte ihrem Wesen entsprechen? Sicherlich ein Bär. Oder doch eher ein Wolf? Nein, ausgeschlossen. Es könnte auch ein Adler sein, ja. Ganz bestimmt kein Käfer und keine Schlange, auch keine Maus. Oh, das war ja so aufregend! Fast vergaß sie ihren Kummer über die bevorstehende Reise.
Zuletzt geändert von Tinnuriel am Donnerstag 9. Dezember 2010, 20:12, insgesamt 2-mal geändert.
Tinnuriel
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Re: Seelenbruder

Beitrag von Tinnuriel »

Iorthon erwartete sie bereits und warf lächelnd einen Blick auf das Frettchen. „Ich habe schon von Eurer Freundin gehört, darf ich sie mir einmal ansehen?“ Behutsam nahm er das Frettchen in die Arme, das sich nicht wehrte, sondern sich ebenso vertrauensvoll an ihn schmiegte wie zuvor an Tinnuriel. „Ihr habt hier ein ganz besonderes Tier, aber das wißt Ihr ja schon, nicht wahr?“ Schmunzelnd sah er Tinnuriel an. Diese seufzte tief. „Die Königin ist da etwas anderer Ansicht“, begann sie, aber Iorthon unterbrach sie. „Das liegt daran, daß dieses Tier nicht für sie bestimmt war. Nein, die weiße Schwester gehört zu Euch.“ Er blinzelte ihr zu, während sie sich fragte, woher er den Namen des Tieres kannte, den sie ihm doch gerade erst gegeben hatte. „Ihr habt Fainith, die Euch begleiten wird“, er nickte dem Frettchen zu. „Und in Eurer Eigenschaft als Bewahrer besitzt Ihr die Fähigkeit, einen Begleiter zu beschwören.“ Er nickte. „Aber es gibt da auch noch Euer Geisttier, das mächtigste von allen Tieren, das Euch begleiten wird. Ihr müßt lernen, es zu erkennen und Kontakt mit ihm aufzunehmen. Erst dann werdet Ihr in der Lage sein, es zu rufen. Dieses Tier wird Eurem Wesen entsprechen, es wird ein Teil Eurer Seele sein. Es spielt keine Rolle, ob es groß oder klein ist, schön oder häßlich. Macht Euch frei von jeder Vorstellung, wie das Tier aussehen sollte. Vielleicht ist es ein Hund mit sechs Beinen oder eine Schnecke, die eine Schleimspur hinter sich herzieht, wer weiß? Unterschätzt niemals die Macht dieses Tieres“, fügte er ernst hinzu, als er sah, wie Tinnuriel bei der Vorstellung einer schleimigen Schnecke schauderte. „Zunächst aber einmal müßt Ihr schlafen, nach der heutigen Aufregung seid Ihr nicht in der Verfassung für eine Lektion.“ Er reichte Tinnuriel einen dampfenden Becher, den diese mißtrauisch musterte. Iorthon lachte laut auf. „Heiße Milch mit Honig, mein Kind! Ich will Euch nicht vergiften, Ihr sollt nur zur Ruhe kommen“. Er kicherte immer noch, als Tinnuriel begann, den Becher zu leeren.

Am nächsten Tag begann Iorthon mit dem Unterricht. Tinnuriel brummte der Kopf, so viel erzählte er über die Theorie von Geistreisen und der Beschaffenheit und dem Wesen der verschiedenen Geisttiere. Erst nach zwei Tagen erklärte er Tinnuriel für fähig, eine Geistreise zu unternehmen. Zugleich warnte er sie vor zu hohen Erwartungen, es war sehr wahrscheinlich, daß sie ihr Geisttier noch gar nicht finden würde. Ängstlich nippte Tinnuriel an dem bitteren Gebräu, das Iorthon ihr reichte und das sie in Trance versetzen sollte. „Nun stellt Euch nicht so an, runter damit!“ kommandierte der alte Druide schließlich, als ihm ihr Zögern zuviel wurde. Sie schloß die Augen und stürzte das bittere Getränk in einem Zug hinunter. Sofort wurde ihr schwindelig und sie spürte, wie sie fiel und fiel und fiel…

Abrupt setzte Tinnuriel sich auf. Sie lag auf weichen Decken in Iorthons Gemächern, im Kamin prasselte ein Feuer und Fainith lag neben ihr eingerollt. Sie öffnete ein Auge und musterte Tinnuriel gähnend, als wollte sie sagen: „Na, endlich, wurde aber auch Zeit.“ Im Nebenraum hörte Tinnuriel, wie Iorthon vor sich hin brummelte und mit Gerätschaften hantierte. Hoffentlich braute er nicht schon wieder so einen schrecklichen Trank für sie, noch einmal würde sie so ein Zeug sicherlich nicht hinunterbringen. Der Trank… Moment! Sie sprang auf und wäre beinahe sofort wieder gestürzt, so schwindelig war ihr. Sofort war Iorthon bei ihr. „Ruhig, Kindchen, ganz ruhig. Setzt Euch hin und erzählt, was Ihr erlebt habt.“ Er musterte sie neugierig, doch Tinnuriel schüttelte den Kopf. „Ich bin gefallen und muß mir den Kopf angeschlagen haben. Das war alles.“
Iorthon lachte vergnügt. „So so… Nun, ich bin sicher, da war noch mehr, wir müssen es nur finden.“ Er starrte ihr in die Augen und sie sah das Grün seiner Augen und wie die Staubkörnchen in der Luft flimmerten und die Sonnenstrahlen, die durchs Fenster fielen. Sie hörte das leise Rascheln von Blättern in einem leichten Luftzug - nein, das waren keine Blätter. Und das war auch kein leichter Wind. Es war kalt, sie spürte den Wind im Gesicht und das Rauschen waren keine Blätter, sondern Flügel. Sie flog, flog durch die sternenlose Nacht und war stark und mächtig. Die Nacht war ihr Element und sie war frei… Mit einem Ruck kam Tinnuriel zu sich. Iorthon musterte sie zufrieden. „Seht Ihr, jetzt müsst Ihr nur noch lernen, das Tier zu rufen. Ihr habt Euch kennengelernt, doch es bedarf noch einiger Arbeit. Immerhin wißt Ihr schon, daß Euer Geisttier geflügelt ist, es ist also doch keine Schnecke“ fügte er neckend mit einem Augenzwinkern hinzu.

Tatsächlich dauerte es noch den Rest der Woche, bis Tinnuriel es lernte, ihr Geisttier zu beschwören und erst dann erfuhr sie, was für ein Tier es tatsächlich war: es war riesig und schwarz wie die Nacht. Hatte mächtige Flügel, ein zotteliges Fell und ebenso rote Augen wie ihr Schneefrettchen. Es war ungebärdig und stolz und liebte die Freiheit. Und es war wunderschön! Iorthon pfiff bewundernd durch die Zähne. „Ein schwarzer Pegasus, sieh einer an! Da können wir nicht mithalten, Alte, nicht wahr?“ und er legte liebevoll den Arm um die alte graugetigerte Katze, die auf dem Schreibtisch döste. Tinnuriel musterte die Katze plötzlich mit ganz neuen Augen, das war Iorthons Geisttier? Er sah ihr Staunen und lächelte: „Wenn Ihr mit Eurem Geisttier so lange so vertraut seid wie ich, dann werdet auch Ihr eine ganz besondere Verbundenheit entwickeln.“ Er musterte den Pegasus nachdenklich und nickte schließlich. „„Ein weißer und ein schwarzer Begleiter, Licht und Dunkel. Er paßt zu Euch! Wie ist sein Name?“
„Faehanar“ sagte Tinnuriel ohne Zögern. Sie wußte nicht, woher sie diese absolute Gewißheit hatte, doch sie wußte, daß es stimmte. „Faehanar, mein Seelenbruder.“
Tinnuriel
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Eine geheimnisvolle Gemeinschaft

Beitrag von Tinnuriel »

Kapitel 3

Eine geheimnisvolle Gemeinschaft

Schweren Herzens verabschiedete sich Tinnuriel von allen, die sie am Hof schätzen gelernt hatte, doch das waren im Grunde nur wenige. Aeglosson drängte sie zum Aufbruch, denn die Königin war nicht für ihre Geduld bekannt. „Morgen werdet Ihr aufbrechen! Es gibt einen Außenposten, weit entfernt von Hilos auf einer Insel, von der aus wir den Kontakt zu den Menschen pflegen. Dort werdet Ihr auf die Welt der Menschen vorbereitet werden und auch ihre Sprache lernen. Auch wird man Euch dort am besten sagen können, wie Ihr in dieses ’Harf’ gelangt, wohin Ihr dieses…“, er wies auf Fainith, „dieses… Biest… bringen sollt. Wendet Euch dort an Gamunhan, den Akademie-Meister. Morgen früh brechen einige Reisende zur Insel auf, Ihr könnt Euch ihnen anschließen.“ Nachdenklich musterte er Tinnuriel und zum ersten Mal glaubte sie, etwas wie Besorgnis in seinem Blick zu erkennen. „Denkt immer daran: Ihr seid eine Bewahrerin von Hilos, verhaltet Euch also entsprechend. Ich erwarte, daß Ihr mir regelmäßig Bericht erstattet, haben wir uns verstanden?“ Tinnuriel nickte eingeschüchtert, „Selbstverständlich!“ Sie wandte sich zum gehen und hatte die Tür schon fast hinter sich geschlossen, als sie Aeglosson leise und sanft sagen hörte: „Mögen die Götter über Euch wachen, mein Kind!“

Es war eine bunte Truppe, die sich am nächsten Morgen auf den Weg zur Elbeninsel machte. Da waren mehrere Soldaten, die als Begleitschutz dienen sollten, wobei sich Tinnuriel fragte, wofür sie bei einer Reise zu einem Hoheitsgebiet der Elben einen Begleitschutz benötigen sollten. Waren die Menschen doch immer noch gefährlich? Zur Gemeinschaft gehörten außerdem Shidograce, die eine Stelle als Ausbilderin in Kräuterkunde antreten wollte und Sharat Misas, der auf der Insel mit Waffen handeln wollte. Sagittar dagegen hatte sie noch nie zuvor gesehen, der Elb wirkte düster und verschlossen und tatsächlich hielt er sich während der gesamten Reise abseits von den anderen und blieb für sich. Tinnuriel konnte nur hoffen, daß er nicht in Aeglossons Diensten stand und sie überwachen sollte.
Auch Labio war dabei, ein Elb, der sich bei Hofe durch allerlei Unfug hervorgetan hatte. Gerüchten zufolge schickte Bogenmeister Cúion ihn ins Tal der Vorbereitung, zur Ausbildung, wie es hieß. Tinnuriel kannte Cúion und vermutete eher, daß dieser den Störenfried schlicht loswerden wollte. Da Labio wirklich eine Nervensäge war, konnte sie ihm das nicht verdenken. Allerdings hatte Walogowbi, der ebenfalls dabei war, mindestens genauso viele Streiche auf dem Kerbholz und Ailkiss war dafür bekannt, gerne einmal „ungewöhnliche“ Experimente zu wagen - beim letzten Mal war dabei das Labor seines Meisters explodiert. Tinnuriel seufzte tief, was für eine Begrüßung konnte sie erwarten, wenn sie in einer solchen Gesellschaft auf der Insel ankam? Sie hoffte nur, es würde kein schlechtes Licht auf sie werfen, wenn sie in Begleitung dieser Unruhestifter bei Meister Gamunhan vorsprach.

Während der Reise hielt sie sich an Shidograce, die ihr sehr vernünftig erschien. Sie war schon älter und ihre grünen Augen leuchteten jedesmal besonders intensiv, wenn sie von ihren Kräutern sprach. Tinnuriel hörte ihr gerne zu und lernte einiges über die Anwendung von Kräutern auf dieser Reise. Labio, Walogowbi und Ailkiss mied sie, soweit es in der kleinen Gemeinschaft möglich war.

Die Reise war lang und Tinnuriel war froh, daß Fainith dabei war, das Frettchen war ihr ein ständiger Trost und munterte sie stets auf. Besonders von Walogowbi mußte sie sich jedoch einiges an Spott anhören über dieses ungewöhnliche Tier mit den langen Ohren. Schweren Herzens dachte sie an die unbekannte Stadt Harf und daß sie Fainith dort abgeben mußte. Erst einmal stand ihr jedoch das Tal der Vorbereitung bevor. Die Ausbildung dort sollte streng sein, hörte sie von Labio hinter vorgehaltener Hand und die Sprache der Menschen schier unmöglich zu lernen.

Meister Gamunhan erschien Tinnuriel auf den ersten Blick unzugänglich und überaus streng und selbst sein Assistent Intalada musterte sie von oben herab - zumindest schien es ihr so und sie sah schon ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Die Ausbildung im Tal der Vorbereitung gefiel ihr jedoch und die Meister entpuppten sich als zwar ernst, aber gerecht. Sie waren keineswegs so humorlos wie Walogowbi zum Beispiel behauptet hatte, der sich im übrigen nur zu bald in die größten Schwierigkeiten brachte. Nach allem, was Tinnuriel wußte, hüpfte er immer noch als Frosch auf der Insel herum.
Sie lernte vieles über die Sitten und Gebräuche der Menschen und über die Geographie ihrer Lande. Schon bald wußte sie, wo Harf war und mit einem Kloß in der Kehle betrachtete sie die Landkarte. Die größten Schwierigkeiten bereitete ihr dagegen die Sprache der Menschen, von der sie sicher war, sie nie beherrschen zu können. Doch auch diese Hürde meisterte sie und schließlich kam der Tag, an dem sie eine Fahrkarte für das Luftschiff überreicht bekam und die Insel verließ.
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Als sie in Varanas ankam, meldete sie sich zuerst bei der Botschafterin der Elben, die sie noch einmal eindringlich ermahnte, Vorsicht walten zu lassen. „Die Menschen haben viele Vorurteile uns gegenüber“, sagte sie mit ihrer melodischen Stimme. „Bewahrt Eure Zurückhaltung und gebt nie Euren Stolz auf! Unsere Kultur besteht seit Tausenden von Jahren, lasst Euch nicht Eurer Herkunft wegen beleidigen. Denkt aber auch daran, daß Ihr eine Bewahrerin von Hilos seid: alles Schlechte, jeder Jähzorn und jeder ungerechtfertigte Angriff, wird dem Ansehen unseres Volkes schaden und, dessen seid gewiß, seinen Weg nach Hilos finden. Ich bin sicher, Aeglosson wäre nicht erfreut, negatives über Euer Verhalten zu hören.“ Sie musterte Tinnuriel scharf.
Tinnuriel nickte schweigend, dann wandte sie sich um und machte sich auf den Weg zum Stadttor. Varanas kam ihr schmutzig und überfüllt vor, zu viele Mauern und zu viel Stein waren um sie herum - und viel zu viele Menschen! Sie hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Wie gelähmt blieb sie auf der Brücke vor Varanas stehen. Es herrschte ein Kommen und Gehen und von den Wortfetzen, die um sie herumschwirrten, verstand sie nicht einmal die Hälfte. Heillose Panik überfiel sie. Die Stadt war ihr bereits riesig erschienen und jetzt diese breite Brücke aus Stein, auf der es von Menschen und den verschiedensten Reittieren nur so wimmelte. Erst, als sie eine warme weiche Schnauze spürte, die sich in ihre Handfläche bohrte, löste sich die Erstarrung. „Fainith“, flüsterte sie und eine Träne rann ihr die Wange hinunter. „Meine Fainith! Was tue ich hier? Ich kann doch nicht nach Harf gehen und dich einfach so aufgeben…“
Tinnuriel schluchzte auf und zuckte gleich darauf zusammen, als eine Hand an ihrem Ärmel zupfte. „Eine Nachricht der Botschafterin für Euch, welch Glück, daß ich Euch noch erwischt habe“, sagte eine atemlose Elbin neben ihr. Sie musterte Tinnuriel für einen Moment mitfühlend und begab sich dann wieder auf den Weg in die Stadt.
Tinnuriel faltete die Nachricht der Botschafterin auseinander: „Eure Aufgabe mag Euch unüberwindbar erscheinen, doch verzagt nicht. Die Elben von Hilos helfen einander und ein Euch wohlbekannter Elb hält sich zur Zeit im Dorfe Logar auf. Ich schlage vor, daß Ihr zuerst ihn aufsucht, bevor Ihr Euch nach Harf begebt. Er mag sich seit Eurer letzten Begegnung verändert haben, doch werdet Ihr ihn sicherlich erkennen. Er wird Euch eine große Hilfe sein, dessen bin ich gewiß. Vielleicht solltet Ihr unter einem Apfelbaum nach ihm Ausschau halten…“

Tinnuriel überlief es heiß und kalt. Gadón! Gadón war hier, ganz in der Nähe! Ein Weg von wenigen Stunden und sie würde in seiner Nähe sein. So oft hatte sie an ihn gedacht, an diese merkwürdige Wärme, die sie in seiner Nähe verspürte. Logar war nur ein Dorf, ein kleiner Punkt auf der Landkarte, sie würde ihn sicher sofort finden. So groß war ihre Aufregung, daß sie sich gar nicht fragte, woher die Botschafterin die Geschichte mit dem Apfelbaum kannte - eine Geschichte übrigens, die ihr immer noch äußerst peinlich war.
Sie überquerte die Brücke und statt nach rechts in Richtung des Aslan-Tals zu gehen, wie es ihre Absicht gewesen war, schlug sie den Weg nach links ein. Logar lag in den Heulenden Bergen und sie konnte es kaum erwarten, dort zu sein. Sie rief nach Faehanar, doch mitten im Ruf überkamen sie Zweifel: würde ihr Geisttier sie hier finden? In dieser Stadt, die so fremd war und so weit entfernt von allem, was ihr lieb und teuer war? Voller Unsicherheit brach sie den Ruf ab.

Zu Fuß machte sie sich auf den Weg nach Logar und fühlte sich dabei so einsam wie nie zuvor in ihrem Leben. Erst als sie weit außerhalb der Stadt war, wurde sie ruhiger. Obwohl eine Straße nach Logar führte, war die Gegend einsam und gefiel ihr. Sie roch den Duft der Bäume und Kräuter, spürte den Wind und genoß das viele Grün um sich herum.
Logar selbst war jedoch deutlich größer, als sie angenommen hatte. Hier herrschte nicht weniger Geschäftigkeit als in der großen Stadt Varanas und einen Obstbaum sah sie weit und breit nicht, geschweige denn einen Apfelbaum! Verzweifelt blieb sie in der Nähe eines Zeltes stehen und als ein Mensch sie ansprach, starrte sie ihn nur an: sie verstand kein Wort von dem, was er sagte. Achselzuckend ging er weiter. Sie blickte erst auf, als eine große Gestalt an ihr vorbeiging, ein Mensch, der alle anderen hier überragte. Doch Moment: das war kein Mensch! Es war eindeutig ein Elb und eine Wärme durchrieselte Tinnuriel bei seinem Anblick. „Gadón!“ schrie sie. „Gadón, wartet!“
Verblüfft drehte sich der große Elb um und musterte die zerzauste, verweinte und verzweifelt wirkende Elbin, die da mitten auf der Straße stand und lauthals seinen Namen rief. „Tinnuriel?“ fragte er schließlich ungläubig. Sie nickte stumm.
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Gadón führte sie fort von der Straße; vor einem Haus mit blühenden Blumen und Kräutern blieben sie stehen und er musterte sie genauer. Fainith flog um sie beide herum, während die Worte und das ganze Elend nur so aus Tinnuriel heraussprudelten. Noch bevor Gadón sich weiter dazu äußern konnte, wurden sie jedoch unterbrochen: Arâgôrn, ein Bekannter Gadóns, sprach ihn an. Schließlich beendete Gadón das Gespräch und erst jetzt sah Tinnuriel ihn wirklich an. „Gadón, was ist geschehen? Ihr seht so… anders aus?“ Gadón schmunzelte. „Ich hatte eine Inkarnation. Aber keine Angst, es ist nur das Aussehen, das sich verändert hat, ich bin ein wenig größer geworden.“ Er lachte leise. Tinnuriel musterte ihn lange. „Größer, ja. Aber auch Eure Augen sind anders. Eine außergewöhnliche Farbe, dieses Türkis.“ Daß sie dieses Türkis ausgesprochen attraktiv fand, behielt sie allerdings für sich.
Gadón brachte Tinnuriel für die Nacht bei einer befreundeten älteren Dame, Agnes, unter. Er verabschiedete sich mit den Worten, daß er noch etwas Dringendes zu erledigen hätte und lud sie für den nächsten Tag in die Burg der Gilde der Obsidianwächter ein. Wie betäubt nickte Tinnuriel, nicht ein Wort verstehend: was war eine Gilde? Und wer waren diese Wächter? Und hatte eine Burg nicht nur ein König? Völlig erschöpft sank sie in das Bett und fiel in einen tiefen Schlaf.

Am nächsten Tag holte Gadón sie wie versprochen ab und führte sie in die „Gildenburg“, wie er es nannte. Als Tinnuriel dort am Tor zwei gestrenge Wächter erblickte, wäre sie am liebsten wieder geflohen, aber Gadón hielt sie am Ellenbogen fest und stellte die beiden Menschen als Cantata und Harkfast vor, zwei geschätzte Mitglieder der Gilde. Erleichtert atmete Tinnuriel auf, als eine Elbin näherkam. Ihr Name war Dakrae und sie war wunderschön. Klein und zierlich war sie und wirkte federleicht. Nur der sehnsüchtige Blick, mit dem sie Gadón musterte, gefiel Tinnuriel gar nicht. Schon bald füllte sich der Burghof und Tinnuriel entdeckte zu ihrer Erleichterung eine weitere Elbin, die sich augenzwinkernd als Enolya vorstellte. Tinnuriel mochte sie auf Anhieb, denn Enolya strahlte Fröhlichkeit aus und Tinnuriel atmete ein wenig leichter. Als zwei weitere Menschen hinzukamen, die als Aydee und Lucina vorgestellt wurden, staunte Tinnuriel. Jetzt erst begriff sie, daß es sich bei den Obsidianwächtern um eine Gemeinschaft handelte. Die Hintergründe blieben ihr zwar verborgen, aber anscheinend bestand die Gemeinschaft aus Elben und Menschen, was äußerst ungewöhnlich war.

Gadón führte alle über den Burghof und erläuterte den Aufbau der Burg, wobei Tinnuriel klar wurde, daß es sich bei Dakrae, Enolya, Aydee und Lucina um Anwärter handelte, die eine Mitgliedschaft in der Gemeinschaft anstrebten. Ein wenig neidisch musterte Tinnuriel sie.
Am Ende der Besichtigung führte Gadón alle in den Sitzungssaal, an dessen Schwelle Tinnuriel stehenblieb. Einen Sitzungssaal betrat man keinesfalls ohne eine offizielle Einladung und schockiert sah sie Enolya zu, die sich ohne Umschweife auf einen der Stühle lümmelte - allerdings nur kurz, denn schon fuhr Cantata die Elbin barsch an und Enolya sprang eiligst auf.
Wie sich herausstellte, wurden an diesem Abend neue Rekruten in die Gilde aufgenommen. Tinnuriel wollte sich schon leise entfernen, als Gadón sie bat, näherzutreten. „Tinnuriel Faenreth La’thonai“, begann er förmlich und ihr Herz klopfte. „Habt Ihr den Wunsch, der Gilde der Obsidianwächter beizutreten?“ Er schaute sie ernst an und ihr Herz klopfte zum zerspringen. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, um was für eine Art Gemeinschaft es sich bei den Obsidianwächtern handelte, aber es gab Elben hier und vor allem gab es Gadón. Sie blickte ihm direkt in die Augen und ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als sie antwortete: „Ja, das will ich!“
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