Martin Doerry: Mein verwundetes Herz

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Tirah
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Martin Doerry: Mein verwundetes Herz

Beitrag von Tirah »

Martin Doerry: Mein verwundetes Herz

Das Leben der Lilli Jahn 1900 - 1944




Klappentext:
Lilli Jahn wächst in der Geborgenheit einer wohlhabenden jüdischen Familie in Köln auf. Anfang der zwanziger Jahre studiert die selbstbewusste junge Frau Medizin, sie genießt Theater und Konzerte und sie diskutiert leidenschaftlich mit ihrem protestantischen Freund und späteren Ehemann Ernst über Literatur, Kunst und Religion. Nach der von Lillis Eltern mit Skepsis betrachteten Heirat zieht das Paar nach Immenhausen bei Kassel und eröffnet eine gemeinsame Arztpraxis.

Lilli Jahn bringt fünf Kinder zur Welt, während sich langsam das Gift der nationalsozialistischen Politik in ihr Leben frisst. Ihr Mann hält dem äußeren Druck nicht stand und lässt sich 1942 von ihr scheiden. Damit ist sie dem NS-Regime schutzlos ausgeliefert. Sie wird in ein Arbeitserziehungslager gebracht, ihr Sohn und ihre vier Töchter müssen den Alltag im Krieg von nun an allein bewältigen.

Hunderte von Briefen, die dank glücklicher Umstände im Original überliefert sind, zeugen von dem verzweifelten Kampf der Mutter und ihrer Kinder um den Zusammenhalt in der Familie. Immer wieder gelingt es Lilli Jahn, heimlich Briefe aus dem Lager zu schicken. Und auch ihre Kinder schreiben unermüdlich, als wollten sie die Mutter mit möglichst vielen brieflichen Liebesbekundungen wieder zurückholen. Doch Krieg und Verfolgung nehmen ihren verhängnisvollen Lauf: Die Kinder werden in Kassel ausgebombt, Lilli Jahn kommt im Juni 1944 in Auschwitz ums Leben.


Beurteilung:
Martin Doerry hat eine Biographie seiner Großmutter geschrieben, die 1944 in Auschwitz ums Leben kam. Dabei stützte er sich auf die Aussagen von Familienmitgliedern und Zeitzeugen, aber hauptsächlich auf Briefe, die Lilli aus der Haft an ihre Kinder schrieb und die ihre Kinder ihr schrieben. Die Kinder - zum Zeitpunkt von Lillis Verhaftung gerade 15, 14, 13 10 und 2 Jahre alt - schrieben regelmäßig an ihre Mutter. Dabei sind diese Briefe berührender als jede noch so trockene Biographie, denn sie machen deutlich, wie sehr die Mutter sich bemüht, ihre Kinder nichts von den Lagerbedingungen ahnen zu lassen. Und wie sehr die Kinder sich bemühen, einen Anschein von Normalität aufrechtzuerhalten, indem sie der Mutter von alltäglichen Kleinigkeiten berichten. Und immer wieder erkennt man in den Briefen die große Sehnsucht der Mutter nach ihren Kindern und die der Kinder nach ihrer Mutter.
Völlig unverständlich bleibt bei all dem die Rolle des geschiedenen Ehemannes, der scheinbar überhaupt keine Verantwortung zu übernehmen bereit ist - weder für seine geschiedene Frau noch für die Kinder.
Es ist eine Biographie, die gerade durch die Alltäglichkeit berührt. Es geht nicht um politische Geschehnisse oder den Widerstand gegen das Regime, sondern um die Kümmernisse von Kindern, die ihre Mutter vermissen. Eine ganz normale Familie, die durch den Rassenwahn der Nazis auseinandergerissen wurde. Allerdings entfaltet dieses Buch seine Wirkung nur, wenn man sich darauf einläßt und die Briefe nicht nur als „langweilig“ überfliegt, sondern wirklich liest und sich hineinversetzt. Dann aber wird einem dieses Buch noch lange nachgehen.


Meine Wertung:
:buchwurm03:


Kategorie: Biographie / Drittes Reich / Judenverfolgung / Briefroman
Hardcover
DVA
351 Seiten
ISBN: 342105634X bzw. 978-3421056344
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My recurring fantasy about libraries is that at night, after everyone goes home, the books come to life and mingle in a fabulous cocktail party. (Neal Wyatt)
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