Geschichte aus dem Düsterwald

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Lyros
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Geschichte aus dem Düsterwald

Beitrag von Lyros »

Im Grunde genommen war es Itydins eigene Schuld und das wusste er auch. Jedoch bestand zwischen Wissen und Zugeben ein kleiner Unterschied. Niemals hätte er auch nur irgendjemandem gegenüber zugegeben, dass es seine eigene Schuld war, auch wenn es im Moment gar niemanden gab, dem er es hätte sagen können. Vielleicht war es sein Stolz, vielleicht auch seine Dickköpfigkeit – wenn das nicht irgendwie dasselbe war.

Wie hatte er auch nur auf die Idee kommen können, dass er sich in diesem verdammten Wald zurechtfinden würde; er schaffte es ja sogar sich in einer Hütte zu verlaufen. Natürlich wusste Itydin, dass er auf die Leute im Dorf hätte hören sollen, aber wann hatte er jemals auf jemanden gehört?
Klar, er war deshalb schon oft auf die Schnauze gefallen und hatte Erfahrungen gemacht, auf die er gern verzichtet hätte, aber so war er nun mal. Ändern ließ sich das jetzt nicht mehr, dafür war es zu spät. Genauso wenig konnte man den Umstand ändern, dass er sich verlaufen hatte, obwohl man ihn ganz deutlich vor diesem Wald gewarnt hatte. Es war ein scheußliches Gefühl, herauszufinden, dass man sich getäuscht hatte und es von Anfang an gewusst hatte. Itydin hatte sich - mal wieder - selbst in Schwierigkeiten gebracht und darauf war er ganz sicher nicht stolz.

Wie hatte der Wirt in der alten Kneipe sich ausgedrückt? Ach, ja, richtig: Wenn ich du wäre, mein junger Freund, würde ich das Ganze ganz schnell vergessen und mich auf mein Pferd setzen, das mich sicher nach Hause bringt.

In Itydins Ohren hatte sich das wie dummes Geschwätz angehört, blöde Dorfgeschichten und eine Menge alberner Aberglaube. Die Leute lebten wahrscheinlich einfach zu weit vom Schuss weg, als dass sie diese alten Sitten und blöden Geschichten hätten ablegen können. Warum sollte es in diesem Wald, der kaum anders war als alle anderen auf der Welt, etwas geben, dass er zu fürchten hatte?

Und doch.

Irgendetwas war an diesem Wald anders.
Itydin Armagand war jemand, der selten zugab, sich geirrt zu haben. Aber dieser Wald war nicht so, wie ein Wald seiner Meinung nach sein sollte. Das hörte sich blöd an, das war ihm klar, und wenn er genau darüber nachdachte, dann fragte er sich auch, wie er auf so etwas Dummes kam, aber es war ganz eindeutig da.

Hätte Itydin jemandem beschreiben müssen, was es eigentlich war, das an diesem Wald anders war, hätte er es höchstwahrscheinlich nicht gekonnt. Es war schwer zu erklären, viel mehr ein ungutes Gefühl oder eine Vorahnung, als konkrete, stichhaltige Argumente. Er mochte dieses Gefühl nicht. Es war nicht die langsam einkehrende Dunkelheit, die ihm Unbehagen bereitete, oder auch nicht die unbekannten Geräusche von wilden Tieren, hoch oben in den bedrohlich wirkenden Baumriesen oder zwischen den Büschen.
Es störte ihn nicht, dass seine Schritte unheimlich auf dem von trockenem Laub gesäumten Waldboden knirschten oder dass es jedes Mal knackte, wenn er auf einen Zweig am Boden trat. Auch das Alleinsein war ihm egal. Es hatte ihn noch nie gestört, wenn er irgendwo alleine war und meistens war es ihm auch lieber, als von Menschen umzingelt zu sein. Die meisten würden sich in solch einer Situation wahrscheinlich am unwohlsten fühlen, weil außer ihnen selbst niemand anderes da war. Itydin jedoch war zumindest das egal.

Es war etwas gänzlich anderes, das ihm da auffiel, etwas, was zu schwer in Worte zu fassen war, um es beschreiben zu können. Natürlich war es dumm, aber Itydin hatte das Gefühl, das dort etwas war und auf ihn lauerte, etwas, das überall war, in der Luft und in der Erde, in jedem Baum und jedem Grashalm. Es war, wie als würde er die Präsenz des puren Bösen spüren. Eine dunkle Macht, die er fühlen konnte und von der er sich sicher war, dass sie da war und die Finger nach ihm ausstrecken würde, sollte er ihr zu nahe kommen.

Aber natürlich wusste er, dass das verrückt war.

Seine Phantasie war wohl einfach etwas lebhafter ausgefallen, als das bei anderen der Fall war. Wahrscheinlich hatte ihm die zahlreichen Gruselgeschichten aus seiner Kindheit den Kopf aufgeweicht.
Ein Wald war ein Wald und nichts anderes. Es gab keine schaurigen Gestallten und wilde Ungeheuer, fleischfressende Pflanzen so groß wie Häuser. All das waren nur die dummen Überbleibsel aus den letzten Jahren seiner Jugend, die bei ihm hängen geblieben waren.

In seinem Leben hatte er schon viele Wälder von innen gesehen. Erst bei langen, ausgiebigen Wanderungen mit seinem Vater, später mit Lyros oder einem seiner anderen Kumpels und dann auch alleine. Irgendwann hatte er festgestellt, dass für ihn die einsamen Wald-Touren die schönsten waren. Nirgends konnte er sich so entspannen oder so abschalten und von allen Gedanken frei kommen, wie wenn er alleine im Wald unterwegs war.

Irgendwann war es ihm dann nicht mehr genug gewesen, am Abend wieder nach Hause zurück zu gehen. Er hatte angefangen in der Wildnis zu übernachten und unternahm manchmal sogar Touren von ein paar Tagen, ehe er sich erholt genug fühlte, um in die Stadt zurück zu kehren. Der Wald schmeckte für ihn nach Abenteuer, nach etwas Bodenständigem.

Jedenfalls war ihm noch nie etwas unheimliches oder gefährliches begegnet, und schon gar nichts, dass auf diese Art abnormal war, dass es den Sprung in die Schauergeschichten der Ältesten geschafft hätte.
Nichts.
Es waren immer nur Wälder. Bäume und Büsche, Gras und Dreck, vielleicht mal Tiere. Mehr nicht.
Aber egal, wie viele Wälder er schon gesehen hatte, dieser hier war anders. Es lag etwas in der Luft, das man fast mit den Fingern greifen konnte.
Klar, es war schon dumm, das wusste er ebenso gut, wie er wusste, dass es seine eigene Schuld war, dass er sich verlaufen hatte.
Und er hatte sich verlaufen, das war eindeutig.
Aber wenn das Verlaufen das einzige gewesen wäre. Es war dieser Wald, dieser von Tearl verlassene Wald. Selbst die Bäume in diesem Wald waren anders. Sie waren gedrungen und stämmig, als lastete das ganze Gewicht des wolkenverhangenen, immer dunkler werdenden Himmels auf ihnen, Kreaturen gleich, die sich winden, ducken und krümmen mussten unter ihrer Last.

Itydin fragte sich, warum er überhaupt hier her hatte kommen müssen und wenn er so darüber nachdachte, dann wunderte er sich auch, wieso er noch nie in diesem Wald gewesen war. Schließlich lag er doch sozusagen „in der Nachbarschaft“. Er hatte nie den Drang verspürt zwischen diesen Bäumen hindurchzuwandern oder die Luft dieses Ortes einzuatmen gehabt, dass er sonst immer hatte.
Nie bis auf heute.
Nun, was sollte er dazu sagen? Irgendwann war schließlich immer das erste Mal. Und Itydin war alt genug, um zu wissen, dass es für manche Taten und Dinge keine plausiblen Erklärungen gab. Manches passierte einfach und oft hatte man selbst den kleinsten Anteil daran. Andere Menschen hätten das wahrscheinlich Schicksal genannt – Itydin Armagands nannte es den Lauf der Dinge.
Trotzdem.

Dieses Mal hatte er eigentlich keine große Tour geplant. Er wollte nur ein paar Stunden durch den Wald laufen und abschalten. Es hatte viel Ärger bei der Arbeit gegeben, weil er einen wichtigen Auftrag vermasselt hatte und als er nach Hause gekommen war, hatte er sich mit Mutter gestritten.

Nun, das war also der Grund warum er beschlossen hatte, in den Wald zu gehen. Zwar war es nicht der Grund warum er beschlossen hatte, gerade in diesen Wald zu gehen, aber das war in Ordnung. Der Lauf der Dinge eben. Jedoch hatte Itydin so einige Probleme, sich an den Grund zu erinnern, warum er sich in diesem verfluchten Wald verlaufen hatte.
Eigentlich hatte Itydin immer geglaubt, von sich behaupten zu können, dass er einen – zwar nicht perfekten, aber dennoch guten - Orientierungssinn besaß. Nun ja, so gut war er eigentlich auch wieder nicht. Irgendwie gehörte er zu der Art von Menschen, die ständig in irgendeinem Kaff nach dem Weg fragen mussten. Deshalb hatte es ihn auch immer wieder gewundert, dass er stets von seinen Touren im Wald wieder heil nach Hause gekommen war.

Aber Itydin war enttäuscht von sich selbst und seinen Fähigkeiten als Wanderer und vielleicht, oder gerade deshalb, hatte es so lange gedauert, bis er sich selbst zugegeben hatte, dass er sich verlaufen hatte. Ein klarer Fall von gekränktem Stolz – keine Frage. Aber er war froh, dass niemand da war, der mit ihm schimpfen konnte und ihm seine eigene Dummheit vorwarf. Er war froh, dass Mutter nicht hier war um ihm eine Ohrfeige zu geben, weil er so dumm gewesen war, sich zwischen einem Haufen Bäume zu verlaufen. Und er war auch froh, dass Lyros oder sonst wer nicht da war, denn blöde Bemerkungen und Vorwürfe waren das letzte, was er jetzt brauchen konnte.
Wie es aussah war die Situation also doch nicht ganz so schlimm, wie sie hätte sein können. Immerhin war Itydin allein. Wenigstens etwas. Es hätte schlimmer kommen können.
Und trotzdem.
Die ganze Situation kam ihm doch reichlich dumm vor. Mal wieder hatte er es geschafft, sich in Schwierigkeiten zu bringen und die Chancen, dass das Blatt sich wenden würde, standen im Moment schlecht.
Mutter würde auf gar keinen Fall nach ihm suchen. Es war nicht ungewöhnlich dass Itydin nach einem Streit die ganze Nacht nicht nach Hause kam. An solchen Tagen schlief er bei einem Seiner Freunde. Die Hoffnung war also sehr gering, dass Mutter seine Abwesenheit bemerken würde. Wahrscheinlich würde sie erst nach drei Tagen auf die Idee kommen, sich allmählich mal Gedanken zu machen, wo er abgeblieben war.

Eine Waffe besaß er nicht. Die Dinger waren ihm auf seltsame Art überflüssig. Nun, jetzt verfluchte er sich für diese pingelige Einstellung und schwor sich, gleich wenn er aus diesem verdammten Wald heraus war, in die nächsten Schmiede zu spazieren und sich einen Dolch zuzulegen - nur für denn Fall, dass er jemals wieder in so eine Situation geraten würde.

Wenn er aus diesem verdammten Wald heraus war.

Wann immer das auch sein würde.

Plötzlich hörte er ein Geräusch. Sich vorsichtig umblickend blieb er stehen und lauschte in den Wald hinein. Da war es wieder! Es war das Geräusch, dass verursacht wurde, wenn man durch trockenes Laub ging und die Füße nicht recht anhob. Irgendetwas an diesem Geräusch ließ Itydin innerlich zusammen zucken und weil es ihn so plötzlich aus seinen Gedanken gerissen hatte, kam es ihm noch viel unheimlicher vor, als es sonst der Fall gewesen wäre.

Es kam näher.

Itydin spannte unwillkürlich seine Muskeln an und machte sich auf das bereit, was da nun kommen würde. Möglicherweise gab es hier doch etwas, was es nicht hätte geben dürfen. Irgendetwas böses, das ihn jetzt lange genug beobachtet hatte. Etwas, das fand, dass er ein feines Abendessen abgeben würde.

Er schluckte und begann an den Handflächen zu schwitzen, wie meistens wenn er nervös war. Dann raschele es unsanft um Gebüsch und etwas kam zwischen den Blättern und Zweigen hervor.

Einige Sekunden stand er Auge in Auge mit dem Fuchs; dann war er plötzlich verschwunden. Er machte kein Geräusch, als er sich davonstahl, doch die Stelle im Laub war von einem Moment auf den anderen einfach leer. Vor Erleichterung hätte Itydin beinahe laut aufgelacht.

Ein Fuchs!

An allem waren nur seine überdrehten Nerven und das blöde Geschwätz der Leute in dem kleinen Kaff schuld. Hatte er wirklich geglaubt, eine Bestie würde im Gebüsch auf ihn lauern?

„Mann oh Mann, Itydin, du solltest dich mal sehen! Lässt dich von einem dämlichen Fuchs erschrecken!“

Aber wenn er ehrlich war, dann war das Gefühl beobachtet zu werden beinahe noch stärker als zuvor.

Schließlich brach die Dunkelheit herein. Es wurde so schnell finster, als hätte jemand das Licht ausgeknipst. Die Schatten des Waldes verflochten sich so dicht ineinander, das Itydin kaum mitbekam, wie schnell es letztendlich Nacht wurde.

Er entschloss sich, Rast auf einem großen, moosbewachsenen Felsen zu machen. Als er seinen Rucksack öffnete, fand er nichts weiter, als ein angestaubtes Stück Dörrfleisch und eine halb leere Wasserflasche. Leise vor sich hinfluchend, biss er auf das Fleisch und nahm sich vor, das nächste Mal alles besser durch¬zu¬checken ehe er ging.

Während er kaute, bemerkte er es wieder. Etwas war da. Zwar konnte er es weder sehen noch hören, aber es war ganz eindeutig da. Irgendetwas war da.
Es kam ihm so vor, als würde eine unheilvolle Präsenz in der Luft liegen und sie verpesten. Die Luft, die er einatmete kam ihm stickiger und dicker vor, als vorher. Die ganze angespannte Atmosphäre schien ihn fast zu erdrücken und er musste sich selbst eingestehen, dass er sich alles andere als wohl fühlte.
Trotz allem entschloss er sich ein wenig zu schlafen. Es war mittlerweile so dunkel geworden, dass er kaum noch den Weg sehen konnte, auf dem er gekommen war. Wenn er jetzt weiter gehen würde, dann wäre das Risiko über etwas zu stolpern und sich eventuell das Genick zu brechen, recht groß.
Also machte er es sich in einer akzeptablen Position bequem, legte sich neben den Felsen, auf dem er gerastet hatte auf den Boden und deckte sich mit seinem Umhang zu. Diese provisorische Decke war mehr schlecht als recht, aber wie schon seine Großmutter immer gesagt hatte: Allein der Gedanke zählte.
Itydin seufzte ein letztes Mal, schob sich seinen Rucksack als Kopfkissen unter und versuchte nicht an das zu denken, was er zu fühlen glaubte, nicht an diese seltsame, erdrückende Atmosphäre.

Dann schloss er die Augen.

Als er wach wurde, war es immer noch vollkommen finster und einen Augenblick lang wusste er nicht, wer oder wo er war; ein schreckliches Gefühl zwischen Traum und Wirklichkeit. Dann kehrte allmählich sein Bewusstsein zurück und er konnte sich daran erinnern, wo er sich befand und in was für einer bescheuerten Situation. Seufzend fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht und wünschte sich den Schlaf wieder herbei. Er konnte nicht lange geschlafen haben, aber wenigstens für diese kurze Zeit hatte er vergessen, was noch vor ihm lag. Um ihn herum war es vollkommen dunkel, so dunkel wie es nur im Wald sein konnte, weit weg von den Lichtern der. Das, was die Leute Dunkelheit nannten, das war in Wirklichkeit gar keine richtige Dunkelheit, das wusste Itydin. Hier herrschte noch totale Finsternis, eine schreckliche Art von Dunkelheit, die überall zu sein schien, die ihn umgab wie ein furchterregender Mantel, die ihm einen Schleier über die Augen legte, bei dem er das Gefühl hatte, sich nicht sicher zu sein, dass er jemals wieder verschwinden würde. Es war eine andere Art von Dunkelheit, eine andere Art von Nacht.
Itydin versuchte wieder einzuschlafen, aber es gelang ihm nicht. Sein Körper war müde, aber sein Verstand wollte nicht. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab und er musste daran denken wie dumm er eigentlich war, sich in solch eine Situation zu bringen. Er fragte sich, was Mutter wohl gerade tat und ob sie sich nicht vielleicht doch fragte, wo er abgeblieben war.
Aber es war nicht allein das Denken, das ihn vom Weiterschlafen abhielt.

Da waren seltsame Geräusche und Stimmen, die nicht von dieser Welt zu sein schienen, Flüstern und Raunen, Säuseln und Kichern, und Itydin wusste nicht, ob es nur der Wind war oder nicht. Er war sich sicher, dass diese Geräusche vorhin noch nicht da gewesen waren. Und dieses Mal war es anders als mit dem Fuchs. Diese Geräusche konnten keinen Tieren gehören, egal wie sehr er es sich versuchte einzureden und wie sehr er wünschte, es wäre so.

Aber vielleicht war das, was er da hörte, auch gar nicht real. War es nicht vollkommen normal, dass nachts im Wald die Phantasie mit einem durchging? Man sah dann Dinge oder hörte Geräusche, die es gar nicht gab oder interpretierte die gefährlichsten Dinge in die harmlosesten Schatten.

Das war normal. Völlig normal.

Aber da war auch noch etwas anderes, etwas von dem Itydin nicht wusste, wie er es in Worte fassen sollte. Da waren zwar Gedanken in seinem Kopf, aber sie machten keinen Sinn und er fand sowieso keine richtigen Worte dafür. Und wozu auch? Wem hätte er es schon erzählen sollen?

Und natürlich war da wieder dieses seltsame Gefühl. Immer noch glaubte er beobachtet zu werden. Doch egal, wohin er seinen Kopf drehte, sah er nichts und niemanden; nur Dunkelheit und eine Menge unheimlicher Schatten.

Irgendwann beschloss er dann, trotz der Dunkelheit weiter zu gehen, nur um dieser immer schwerer werdenden Gegenwart von etwas, dass er nicht kannte zu entfliehen. Er rappelte sich schwerfällig auf, stopfte die leere Wasserflasche nachlässig in den Rucksack und massierte sich einen Moment lang seine steifen Nackenmuskeln.

Dann ging er in irgendeine Richtung. Es war schwer in der Dunkelheit einen sicheren Weg zu finden und mehrere Male stolperte Itydin über Wurzeln oder Steine. Doch das Gefühl, sich zu bewegen tat ihm gut. Sobald er an einer Stelle länger als einen kurzen Augenblick lang stehen blieb, begann er sich unwohl zu fühlen, wie eine Tontaube auf dem Schießstand. Solange er vorwärts ging – auch wenn er nicht wusste, wohin – da war es gut.

Als er ungefähr eine halbe Stunde gelaufen war, kam er auf eine Lichtung, wo er durch eine große Lücke im Blätterdach die Sterne sehen konnte.

Eine innere Stimme riet ihm, sich irgendwo ins Moos zu legen und die letzten paar Stunden der Nacht für ein bisschen Schlaf zu nützen, aber etwas in seinem Innern sträubte sich dagegen. Der Gedanke, sich so schutzlos auf dem Waldboden auszustrecken, wie ein Stück Fleisch auf einem Teller, gefiel ihm nicht. Auch wenn seine Beine immer schwerer wurden und die Augen immer öfter drohten, einfach zuzufallen, zwang er sich weiterzugehen und die Lichtung hinter sich zu lassen.

Sobald er nach Hause kam, würde er sich ins Bett legen und den Schlaf nachholen. Und nach dem Aufwachen würde er sich so richtig satt essen und über dieses alberne, kleine Abenteuer lachen.

Sobald er nach Hause kam.

Die folgenden Stunden glichen einander wie ein Ei dem anderen. Alle waren sie öde, eintönig und verstrichen sehr, sehr langsam. Der Wald sah immer gleich aus und hin und wieder bekam Itydin das Gefühl, sich gar nicht vom Fleck zu rühren. Seine Beine erschienen ihm bleischwer und jeder Schritt war anstrengender als der vorherige. Er war müde und hungrig.

Die Luft war seltsam stickig hier drinnen und roch leicht faulig. Auch war es immer noch so unheimlich dunkel in diesem Wald, denn dem Mondlicht schien es nicht zu gelingen, sich durch die dicht beieinander stehenden Bäume zu kämpfen.

Das Leeregefühl in Itydins Magen wurde immer schlimmer und der Drang nach etwas Essbarem immer stärker. Das Dörrfleisch und das Wasser schienen ihm Ewigkeiten her. Was hätte er jetzt für ein saftiges Stück Fleisch und einen großen Leib frisches Brot gegeben? Alles vermutlich. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals so hungrig gewesen zu sein, auch wenn das Quatsch war. Aber in solchen Situationen kam das einem immer so vor, das wusste er.

Da war es wieder.

Nein, da war noch mehr. Er hörte ein leises Ausatmen. Oder doch nicht. War das vielleicht nur ein Windhauch?

Zum Teufel noch mal, sein Verstand spielte ihm schon wieder Streiche! Langsam wurde es ihm wirklich zu viel! Da konnte nichts sein, und da war auch nichts!

Wie um ihm das Gegenteil zu beweisen, hörte er die seltsamen Atemgeräusche wieder. Beinahe kam es ihm so vor, als würde er einen warmen, süßlich-modrigen Atem in seinem Nacken spüren. Als er sich hastig umdrehte, war da natürlich nichts.

„Du bist ein verdammter Angsthase, Itydin Armagands! Du solltest dich schämen!“, schallt er sich selbst laut, wie als könnte er mit seiner Stimme dieses unheimliche Gefühl beobachtet zu werden bekämpfen. Ein bisschen half es, aber nicht sehr viel.

Unsicher machte er einen Schritt nach vorne, und stolperte prompt über eine dicke Wurzel am Boden. Er landete der Länge nach auf dem Waldboden und schlug sich den Kopf schmerzhaft an einem großen Stein an. Itydin fluchte, wie er noch nie in seinem Leben geflucht hatte und versuchte sich schwerfällig auf die Ellenbogen zu stützen.

Da hörte er es wieder.

Es war das seltsame Geräusch. Noch nie in seinem Leben hatte er etwas vergleichbares gehört. Wie dumm es auch war, aber es ließ ihm regelrecht das Blut in den Adern gefrieren.

Das Geräusch klang unregelmäßig, röchelnd und ungesund. Dann, ein Stöhnen, das klang, als würde jemand unter starken Schmerzen von schlechten Träumen heimgesucht.

Und es schien näher zu kommen. Sehr schnell näher zu kommen.

Das Geräusch wurde lauter, animalischer. Dann hörte er Brechen und Krachen, als würde etwas schweres auf zerbrechliche Äste und Zweige am Boden treten.

Plötzlich kam noch etwas anderes dazu, auch ein Geräusch, aber so von Grund auf verschieden wie etwas nur sein konnte. Es war einem Weinen und Jammern nicht unähnlich, klang verzehrt menschlich, irgendwie wie von einem verängstigten Kind.

Auch wenn Itydins Körper schneller als sein Verstand begriff, dass Gefahr im Anmarsch war, und er sich hastig aufrappelte, war es bereits zu spät.

Das, was nun vor Itydin stand, war

eine Bestie. Kein Wort hätte es treffender beschreiben können als dieses. In der Gestallt einem riesigen Hund nicht unähnlich, stand es mit fletschenden Zähnen vor ihm. Geifer tropfte aus seinem Maul und Speichel klebte an langen, spitzen Zähnen.

Und in diesem Moment begriff Itydin Armagand, dass es tastsächlich Gefahren in den Wäldern gab – oder zumindest in diesem Wald. Für ihn würde es kein saftiges Fleisch und kein weiches Bett mehr geben.

Und er wusste bereits, dass es keine Möglichkeit mehr gab, vor der Bestie zu flüchten.
Tearl denkt in den Menschen, träumt in den Dichtern und schläft in den übrigen Wesen.
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Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt (Albert Einstein)
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Haben sie keine Angst vor Bücher! Ungelesen sind sie ungefährlich.
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Tirah
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Beitrag von Tirah »

*schluck* :grausen:
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My recurring fantasy about libraries is that at night, after everyone goes home, the books come to life and mingle in a fabulous cocktail party. (Neal Wyatt)
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